Zuwendung statt Berieselung!

O. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner, Vorstand der Universitätsklinik für HNO-Krankheiten an der Medizinischen Universität Wien, über die Wechselwirkung zwischen Musik und Hörvermögen und warum Musik bewusster konsumiert werden sollte.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner ist Spezialist für Kopf- und Halschirurgie und für den chirurgischen Teil einer Versorgung mit Cochlea-Implantaten zuständig. Entwickelt wurden CIs, um tauben Menschen das Hören zu ermöglichen, und damit in erster Linie audio-verbale Kommunikation. Doch der Kliniker versteht, dass sich viele CI-Nutzern gerade auch nach Musikgenuss sehnen: „Musik ist schon wichtig für den seelischen Ausgleich. Sie ist ja der fortgeschrittene Zustand des Hörens.“

„Ohne Musik wäre das Leben so etwas von langweilig und fad.“ Als Absolvent eines musischen Gymnasiums spielt Gstöttner selbst Klavier und Saxophon. „Wörter sind mitunter manipulativ. Philosophisch betrachtet ist es schwierig, eine Aussage mit ausschließlichem Wahrheitsgehalt zu treffen. Musik hingegen ist immer ein Stück Wahrheit. So wie sie ist, so ist sie. Da ist keine andere Absicht dahinter.“ Anders als beim konzentrierten Zuhören bei lautsprachlicher Kommunikation, lässt sich beim Musikhören ein entspannter Weg direkt ins emotionale Gedächtnis finden.

Für Gstöttner zielt Musizieren prinzipiell darauf ab, andere damit zu erreichen, Emotionen zu übertragen und die Zuhörer zu unterhalten. Die dafür nötige Übung betrachtet er als geistiges Fitnesstraining: „Wenn man jeden Tag eine halbe Stunde TV schaut, ist diese Zeit meist verloren, man lässt sich berieseln. Sich regelmäßig mit dem Instrument zu beschäftigen, ist hingegen eine kontinuierliche Weiterentwicklung.“ Seiner Ansicht nach muss es dazu nicht einmal aktives Musikzieren sein, auch konzentriertes Musikhören sei förderlich.

Plädoyer gegen Multitasking

In unserer Gesellschaft ist Musik aber nicht ausschließlich ein Kulturfaktor, der bewusst konsumiert wird. Musikuntermalung begleitet uns im Alltag fast überall: vom Supermarkt, über Kaffeehaus und Hüttengaudi, bis hin zur wohltönenden Überlagerung missliebiger Geräusche auf öffentlichen Toiletten. Beim Podiumsgespräch am Publikumstag Hören Bewegt im vergangenen Frühling fiel in diesem Zusammenhang der Begriff akustischer Smoke.

„Unser Gehirn muss tagsüber vieles bewerkstelligen. Daher kann man nicht ständig konzentriert Musik hören“, erklärt Gstöttner. Dauerberieselung bewirke, dass wir die Musik nicht mehr wahrnehmen. Gstöttner ist überzeugt, dass die Forderung nach Multitasking nicht der Natur des Menschen entspricht.

Ständige Musikuntermalung trainiere das Gehirn wegzuhören, Multitasking schwäche die Konzentrationsfähigkeit: „Man lässt sich berieseln, liest etwas und nebenbei unterhält man sich – aber nichts davon mit vollem Fokus. Konzentration und Zuwendung, auch im Gespräch, können nur noch wenige Menschen aufbringen. Das ist heute die am weitesten verbreitete Zeiterkrankung.“ Gstöttner plädiert für zeitlich begrenzten, aber konzentrierten Musikgenuss: „Konzentration und Aufmerksamkeit zu trainieren, fördert das persönliche Wohlbefinden.“

Gefährdet Musik das Hörvermögen?

Der Primararzt beschreibt das Ohr normalhörender Menschen als hochsensibles Sinnesorgan. „Wir wären sogar in der Lage, unsere eigenen Zellbewegungen im Körper zu hören. Kurzfristige Lärmspitzen kann unser Hörorgan verkraften. Aber je lauter und länger Schall einwirkt, desto gefährlicher wird es für die Haarzellen.“  Für das Ohr ist es dabei gleichgültig, ob es sich beim Schall um Baustellenlärm, die Klänge einer Metal Band oder eines Symphonieorchesters handelt: „Die Belastung hängt nur von der Intensität und der Dauer ab. Dauerbelastung von 85 Dezibel über acht Stunden täglich ist garantiert nicht mehr gut.“

Musik wird selten als Lärm empfunden, zumindest wenn sie dem eigenen Geschmack entspricht. Bei der Lieblingsband werden meist deutlich höhere Lautstärken toleriert und sogar als angenehm empfunden. Die Belastung des Hörorgans wird dadurch aber nicht gemildert.

Berufskrankheit Hörverlust

„Die Lärmbelastung aktiver Musiker wird oft unterschätzt“, verweist Gstöttner auf häufige und lange Proben im Orchestergraben und die Lautstärke von Blasinstrumenten. Sogar im Chor können ungesunde Lautstärken entstehen. „Man weiß, dass in großen Chören viele Sänger einen Lärmschaden haben.“ Auch wenn Hobbymusiker weniger oft proben, mahnt der HNO-Spezialist Vorsicht ein: „Wenn vier Instrumente in einem kleinen Raum sind, geht die Lautstärke schnell auf 90 Dezibel.“

Ob Bau- oder Fabrikarbeiter, Fluglotse, Jäger oder auch Musiker: Werden die Grenzwerte für Lärmbelastung mehrfach überschritten, droht Lärmschwerhörigkeit als bleibende Folge. Lärmschwerhörigkeit beginnt mit reduziertem Hörvermögen bei genau vier Kilohertz, was primär die Wahrnehmung einiger Konsonanten erschwert. Bei beinahe unverändertem Höreindruck sinkt das Sprachverstehen im Störschall – Betroffene müssen in lauter Umgebung vermehrt nachfragen.

Mit zunehmender Beeinträchtigung verstärkt sich die Senke und weitet sich aus, die Entwicklung verläuft oft über Jahrzehnte. „Bis Lärmschwerhörigkeit bemerkt wird, ist sie oft weit fortgeschritten“, weiß Gstöttner aus der Erfahrung mit seinen Patienten. Er hat immer wieder Musiker mit Hörschäden in Behandlung: „Das ist für diese Patienten sehr unangenehm, weil sie beruflich weitgehend von ihrem Hörvermögen abhängen.“

Wenn Musik zum Stress wird

Vom Publikumsbereich aus kaum zu sehen, entdeckt man bei Videoaufnahmen von Konzerten oft Ohrstöpsel in den Ohren der Musiker. „Gut informierte Musiker sind heute besser geschützt“, erklärt Hobbymusiker Gstöttner. Es gibt mittlerweile Hörschutz, der gezielt einzelne Frequenzbereiche dämpft. Muss der Musiker bei Seiten- oder Blasinstrumenten den gespielten Ton genau hören, kann Hörschutz hinderlich und qualitätsmindernd sein. Kompromisse und Zeitpläne sind dann besonders wichtig.

„Ich hatte einmal einen vielversprechenden jungen Sänger nach einem Hörsturz in Behandlung, für den die Höreinbuße natürlich eine Katastrophe war.“ Als Hörsturz bezeichnet man einen anfallsartigen, meist einseitigen Hörverlust. Als Ursache vermutet man Durchblutungsstörungen im Innenohr, Stress gilt als typischer Auslöser. „Es ist schon ein riesiger Stress für Profimusiker, jeden Tag die beste Performance abzugeben. Wenn dann noch ein Hörhandicap dazu kommt, ist das eine große Belastung.“ Ein Teufelskreis. Umso wichtiger ist es, das Hörvermögen bestmöglich zu schützen. Kommt es zu Hörschäden, ist rasche und effiziente Hilfe gefragt.

Unter den aktuellen Nutzern von Cochlea-Implantaten gibt es einige Musiker und einige Nutzer, die in Folge mehrerer Hörstürze ertaubt sind. Vegetative Lärmfolgen oder Stresserscheinungen sind zwar auch bei CI-Nutzern möglich, doch bei Bedarf kann die Lautstärke einfach über die Fernbedienung justiert werden. CI-Nutzer ohne Restgehör müssen auch bei langen, lauten Proben keine weiteren Belastungen des Hörvermögens befürchten. (Anm. d. Red.)


WISSENSWERT

Lärmschutz bei der Arbeit

Maximal erlaubte Lärmbelastung sind 85dBA acht Stunden täglich, sowie kurzfristige Lärmspitzen bis 137dBC.1  Für lautere berufliche Tätigkeiten ist Lärmschutz verpflichtend; kann die Lärmimmission nicht reduziert werden kann und Lärmschutz nicht genügend schützen, sind Lärmpausen vorgeschrieben. Der Gesetzgeber betrachtet Freizeit als generelle Lärmpause: Zusätzliche Belastungen in Konzerten, Discos oder bei privaten Arbeiten werden nicht berücksichtigt. Schädliche Auswirkungen auf Psyche, vegetatives System oder auch Hörschäden sind aber auch unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte nicht gänzlich auszuschließen, besonders bei gleichzeitiger anderwärtiger Belastung.2

1AUVA, BMWuA: Arbeitsinspektorat 02/2006, sowie https://www.ris.bka.gv.at 2019. A und C beim Lautstärkepegel bezeichnet die Bewertung einzelner Frequenzanteile.

2BMWuA: Arbeitsinspektorat 02/2006


„Hören ist bis ins hohe Alter trainierbar!“

„Wenn man nicht kommuniziert, fördert das Depressionen und Demenz, das ist bekannt.“ Bezüglich Musik ist Prof. Dr. Wolfgang Gstöttner von ähnlichen Zusammenhängen überzeugt. „Wenn man musizieren will, muss man viel Übung investieren: Das ist eine schöne Möglichkeit an der eigenen, geistigen Fitness zu arbeiten.“ Auditive und kognitive Fähigkeiten könne auch fördern und erhalten, wer konzentriert Musik hört. „Wer Zeit hat, ruhig mehrere Stunden am Tag.“

Zwei Aspekte der Musik könnten aus Sicht des Fachmanns schädigend wirken: große Lautstärke und Dauerberieselung. Gstöttner empfiehlt daher:

  • Genau hinhören und Aufnahmen auch wiederholt anhören. Wenn man selbst ein Instrument spielt, kann man sich selbst aufnehmen und anhören.
  • Auf die Lautstärke achten! Auch für aktive Musiker ist Schutz vor hohen Lautstärken wichtig: Kopfhörer oder Hörschutz beim Üben zuhause und möglichst auch bei gemeinsamen Proben und Auftritten; notwendige Proben ohne Hörschutz zeitlich limitieren.

„Wie das mechanische Lernen eines Instruments, ist auch das Hören im Gehirn plastisch abgebildet. Ist die Plastizität einmal angelegt, so bleibt sie bis ins hohe Alter erhalten.“